Wo Dein Herz wohnt, bist Du zu Hause

Ein persönliches und spirituelles Loblied auf Leipzig

Teil 1

Sehr geehrte Stadt Leipzig!

Sind wir eigentlich per Sie oder Du?

Über 600.000 Menschen leben hier. Jährlich kamen zuletzt 10.000 dazu.  Die meisten werde ich selbst nie kennenlernen.

Also verbietet sich wohl ein zu vertrauter Ton, oder?

Auch die Vielfalt der Stadtteile, der Biographien und Schicksale, der Geschichten, der Gebäude und Sehenswürdigkeiten, der kleinen Flüsse, Kanäle  und der vielen Facetten seiner Grünanlagen und des Auenwaldes spricht dafür, nicht so zu tun, als würde ich Leipzig kennen. Manchmal bin ich mir ja sogar selbst fremd. Immer wieder entdecke ich neue, überraschende Facetten und immer neu werde ich überrascht, von mir und in Leipzig. Ich kenne viele Aspekte der Stadt, aber vieles ist mir immer noch unbekannt.

Als Fremder sehe ich auf den Mut und die Verzweiflung, die Ängste und die Träume der Menschen, die 1989 auf die Straßen gegangen sind.  Ihre Geschichte hat mein Bild von Leipzig geprägt, bevor ich 1992 das erste Mal hier ankam. Auch da gilt: in Gesprächen entdecke ich immer neue Facetten dessen, was 1989 und in den Jahren danach geschah. Und nicht immer spielten Menschen, die aus dem Westen hier ankamen, eine rühmliche Rolle. Manchen ging es garnicht um Leipzig und seine Bürger, sondern um ihren eigenen Vorteil. Ich denke an enttäuschte Erwartungen, ergriffene Chancen, neu aufgeblühten Bürgerstolz und beeindruckendes ehrenamtliches Engagement. Leipzig gehört zu Sachsen und ist doch eine eigene Welt. Ich betrachte mich als Wahlleipziger, fühle mich zu Hause und bleibe doch Fremder. 

 

Respektvoll blicke ich auf die vielen großen Persönlichkeiten und unerzählten unbekannten Biographien, die die Geschichte dieser einmaligen Stadt geprägt haben.  Nicht alle haben sich in die Stadt verliebt, manche  verbinden Leid und Ausgrenzung mit dieser Station ihres Lebens. Manche wollten einfach nur weg. Eine Frau ließ dafür sogar Hals über Kopf ihr Kind im Stich. Tut mir leid, das Ihnen sagen zu müssen, Leipzig. Leipziger Freiheit bedeutet Freiraum, eigene Wege zu gehen, aber manchmal bedeutet die Anonymität einer Stadt dieser Größe auch, dass viel Leid im Verborgenen geschieht. Und mancher erkennt zu spät, welches Unrecht im Zimmer nebenan geschieht... zur Freiheit gehört immer auch Verantwortung für das, was in der eigenen Wohnung und in den eigenen Stadtvierteln passiert. Und manchmal kämpfen und scheitern wir gemeinsam: die Stadt und ich. 

 

Kommen wir also zu meinem eigenen Blick auf eine Stadt, in der so viele persönliche Erinnerungen an so vielen Straßenecken warten, mit deren jüngerer Geschichte ich mich so oft befasste, in der ich geheiratet habe und in der so viele Freundschaften entstanden. Ich denke an Geschichten der großen Freude und der tiefen Verzweiflung, großer persönlicher Wunder und enttäuschter Erwartungen. Ich denke an Vertrauen und Verletzungen. Ich denke an Nächte, in denen ich hilflos und frustriert einen Menschen suchte, für den ich Verantwortung übernommen hatte und den ich doch loslassen musste, um andere zu schützen, für die ich auch Verantwortung hatte. Ich denke an Gebäude, mit denen ich Freude und Leid verbinde. Ich denke an meine Heirat in der Michaeliskirche, die Nierentransplantation im Uniklinikum, den Tod von meiner Frau Martina im Diakonissenkrankenhaus nach einem verzweifeltem Kampf der Ärzte und an das Doppelgrab am Gohliser Friedhof, das nach meiner aktuellen Geschichtsdeutung 2020 meine tiefe Verbundenheit mit der Stadt der friedlichen Revolution endgültig besiegelt;

Leipzig - hier lebe ich und hier wird mein Körper der Erde zurückgegeben.