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Jesus in schlechter Gesellschaft

Gedanken zum 10. Sonntag im Jahreskreis (Mt 9, 9-13)

Vorstellungen, Annahmen oder Wünsche, wie etwas oder jemand zu sein hat bezeichnet man als Erwartungen. 

Weicht die Realität von der Erwartung ab, sind wir enttäuscht. Wir erwarten, andere Menschen würden genauso fühlen, denken, handeln, wie wir selbst – oder zumindest sollten sie es unserer Meinung nach. 

Jesus enttäuscht regelmäßig die Erwartungen seines Umfelds. Auch seine Jünger begleiten ihn zu oft mit falschen Erwartungen. Die Jünger in Emaus machen das noch nach Ostern deutlich:

Der Tod Jesu war ein Schock. Die Jünger hatten einen anderen Verlauf angenommen: 

"Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde."

Lk 24,21

Statt machtvoller Taten erlöst Jesus durch ohnmächtiges Leiden und Sterben.  Statt sich zum Herrscher aufzuschwingen und die Römer rauszuwerfen, heilt er den Diener eines römischen Hauptmanns. 

 Auch die Pharisäer haben andere Erwartungen. Jesus trifft den Zöllner Matthäus und geht zu ihm nach Hause. 

 

"Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?" (Mt 9,11)

 

Wanderprediger gab es viele in dieser Zeit. Woran konnte man aber erkennen, wer wirklich in Gottes Auftrag kam. Für die Pharisäer war die Frage, mit wem man sich sehen ließ, durchaus ein Erkennungszeichen.  Jesus entsprach nicht den Erwartungen. Er aß mit Sündern. Er heilte am Sabbat. Er sprach mit den Vertretern ungeliebter Gruppen: Samariter, Römer, Zöllner, ...

 

Jesus handelt und spricht anders. Er enttäuscht Erwartungen.

Wie geht man mit Enttäuschungen um?

 

Die Menge findet seine Worte unverständlich und geht. 

Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen? [Joh 6, 67] 

Die Jünger verstehen nicht, aber sie bleiben:

 

Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. [Joh 6,68]

 

Auch die Jünger enttäuschen. Sie möchten Feuer auf ein ungastliches Dorf regnen lassen, sie möchten den besten Platz neben Jesus, sie hindern Kinder daran, zu Jesus zu kommen. Petrus selbst leugnet, Jesus zu kennen. 

 

Es ist insofern nicht verwunderlich, dass auch heute die Jünger Jesu und seine Kirche enttäuschen. 

 

Wer sich vom Unverständnis der Jünger und der Kirche nicht irritieren lässt, begegnet Jesus. Bei Christen und Kirche finden wir den Schatz, aber sie sind nicht der Schatz. Sie sind eher der Acker, in dem ein Schatz verborgen ist. (Mt 13,44) Leider ist dieser Acker manchmal in erschreckend schlechtem Zustand. Es lohnt sich trotzdem, in ihrer Mitte den Schatz zu suchen. 

 

Wenn die Kirche in der Spur Jesu sein will, dann muss sie sich mit den Ohnmächtigen der Gegenwart identifizieren. Sie muss selbst ohnmächtig sein. 

 

Die Christen sind Wegweiser zu Jesus. Es ist nicht die Aufgabe der Christen, den Suchenden im Weg zu stehen. Natürlich können Christen und kann die Kirche sagen, welcher Weg zu Jesus führen könnte. 

Jesus aber geht mit jedem Menschen seinen individuellen Weg. 

Bischof Bertram von Augsburg sagte deshalb an Fronleichnam 2023 zu Recht, dass Christen „keine Türsteher vor dem Festsaal der Eucharistie“ sind, sondern „Hochzeitslader für das Mahl, das der Herr allen bereitet, die ehrlich danach hungern“.

 

Der niederschwellige Zugang zu Jesus bedeutet nicht den Schutz vor Enttäuschungen bei der Begegnung mit Jesus.

Nicht immer bedeutet Heilung, dass eine Krankheit besiegt oder ein Problem gelöst wird. Vielleicht aber gewinnen wir in der  Begegnung mit Jesus eine neue Perspektive. Vielleicht entdecken wir den Spalt in der Tür, um eine untragbare Situation zu lösen. Vielleicht ertragen wir, dass eine Tür dauerhaft geschlossen ist und starren nicht mehr angsterfüllt auf die Tür. 

Auf unserer Reise durch die Zeit sind Enttäuschungen unvermeidlich. Paul Mercier bezeichnet sie sogar als Balsam, den wir bewusst nutzen sollten, um uns selbst besser zu verstehen. Vielleicht müssen wir auch bei der Suche nach Gott ein Sammler von Enttäuschungen sein, um hinter unseren Bildern vom Göttlichen den lebendigen Gott und uns selbst zu finden. 

 

"Wir sollten Enttäuschungen nicht seufzend erleiden als etwas, ohne das unser Leben besser wäre. Wir sollten sie aufsuchen, ihnen nachspüren, sie sammeln. Warum bin ich enttäuscht? Was haben wir denn von den anderen erwartet?

Menschen, die ihr Leben unter der unbarmherzigen Herrschaft von Schmerzen leben müssen, sind oft darüber enttäuscht, wie sich die anderen verhalten, auch diejenigen, die bei ihnen ausharren. Es ist zu wenig, was sie tun und sagen und auch zu wenig, was sie fühlen „Was erwarten Sie denn“? frage ich. Sie können es nicht sagen und sind bestürzt darüber, dass sie jahrelang eine Erwartung mit sich herumgetragen haben, die enttäuscht werden konnte, ohne dass sie Näheres über sie wussten.

Einer der wirklich wissen möchte, wer er ist, müsste ein ruheloser, fanatischer Sammler von Enttäuschungen sein, und das Aufsuchen enttäuschender Erfahrungen müsste ihm wie eine Sucht sein, die alles bestimmende Sucht seines Lebens, denn ihm stünde mit großer Klarheit vor Augen, dass sie nicht ein heißes, zerstörerisches Gift ist, die Enttäuschung, sondern ein kühler, beruhigender Balsam, der uns die Augen öffnet über die wahren Konturen unserer selbst……“

Aus: Nachtzug nach Lissabon (Pascal Mercier)

 

 

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