· 

Vom Wundern über Verwundungen

Mitten im griechischen Restaurant liege ich auf einer Bank. Mit Kissen werden die Beine hoch gelagert. Langsam erholt sich der Kreislauf. Gerade noch sass ich am Tisch. Der trockene Merlot war lecker. Ebenso das Mousaka. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Zeitenstille. Nächste Szene: drei Menschen stehen um mich. Vielleicht wurde bei der Dialyse zu viel Wasser entzogen? Vielleicht habe ich zu viel gegessen? 

Mitten in die Fröhlichkeit unbeschwerter Gespräche drängte sich die Realität menschlicher Verwundbarkeit. Der Mensch ist ein seltsames Wesen an der Grenze zum Nichts. Manche Menschen spüren die Vergänglichkeit des eigenen Körpers stärker. Gleichzeitig erzählt Advent und Weihnachten von Hoffnung und Freude. 

Weihnachten enttäuscht Erwartungen.

Der angekündigte Retter kommt nicht, um von oben herab die Welt machtvoll und mit dem Schwert zu verändern. 

Der angekündigte König der Juden entzieht sich der Krönung. Seine Jünger erwartet keine Herrschaft, sondern Ohnmacht, Leid und Tod. Ein paar Jünger wären ja bereit zu kämpfen. Ein Ohr wird abgeschlagen. Doch Jesus ist für diesen Einsatz nicht dankbar. Er heilt das Ohr. 

Die wenigen Wunderheilungen am Rande des römischen Imperiums helfen den Betroffenen kurzzeitig, doch auch die Geheilten sterben am Ende. Manche kommen zu Jesus zurück und danken, andere leben ihren neuen Alltag und verdrängen die Verwundbarkeit. Am Ende sterben sie. Keiner der Geheilten und keiner der Christen der ersten Generation erlebt, wie Jesus siegreich als Herrscher der Erde sichtbar in die Geschichte eingreift. Eigentlich hatte noch Paulus genau das gehofft. 

Und auch Jesus selbst ist vielleicht enttäuscht vom Verlauf der letzten 2000 Jahre. Die Kirche ist gespalten. Sollten seine Jünger nicht eins sein? Die Einheit sollte das Zeichen für die Welt sein. Doch was bedeutet "eins sein"? 

Stattdessen streiten mehrere Kirchen um sein Erbe und werfen sich gegenseitig die Tür zum Himmel vor der Nase zu. Die Wunden der Spaltung und der religiös begründeten Konflikte bluten bis heute. 

Wunden begleiten die Geschichte der Menschheit. Wunden begleiten die Biographie von jedem Lebewesen. 

Manche Verwundungen sind unvermeidlich. Wenn ein Arzt Blut abnimmt, kann er am Blut ablesen, welche verborgenen Krankheiten in den Organen keimen. Rechtzeitig erkannte Beschwerden können behandelt werden. Eine Impfung kann Leben retten. Eine Operation kann Krebs bekämpfen. 

Wenn die Niere versagt, kann durch zwei Nadeln im Arm das Blut gereinigt werden. 

Es gibt heilsamen Schmerz und heilsame Verletzungen. 

Nach der Auferstehung sind nach dem Zeugnis der Bibel die Wundmale Jesu sichtbar. Die Wunden sind sein Erkennungszeichen. Und das Kreuz wird in den folgenden Jahrhunderten zum Zeichen des Sieges. Dabei war das Kreuz doch Zeichen der römischen Unterdrückung. 

Jesus ist auf den ersten Blick nicht die Person, auf die ich warten würde. Sie durchbricht meine Erwartung. Ich warte auf das Ende von Verletzungen, Leid und Tod. Nicht nur für mich selbst. Das würde mir nicht reichen. Ich denke an Menschen, die von Geburt an chronische Schmerzen haben. Welchen Sinn hat all das Leid? Ich denke an Kriege und Katastrophen. Manchmal verursacht der Mensch Leid. Manchmal wird die Natur zum Gegner. Ich warte auf den König, der mit Macht den Ohnmächtigen hilft. Und ich suche Gott selten bei unabhängigen Wanderpredigern, sondern bei den anerkannten     Schriftgelehrten und im Tempel. Ich bin katholischer Theologe und wenn Jesus nicht in den Strukturen kommt, bin ich erst einmal misstrauisch. 

Doch Gott überrascht und lässt sich nicht in Strukturen zwingen. Die Medizin kann inzwischen vielen Menschen helfen. Gottes Spur ist sichtbar, aber nicht jeder kann sie lesen. 


Bereits die jüdische Hoffnung auf den Messias ist eigentlich eine politische Hoffnung. Der Messias kommt und befreit das Volk von der Fremdherrschaft. Jesus aber befreit von der Vorstellung, dass sein Reich von dieser Welt ist. 

Der Schmerz bleibt. Jesus zieht nach Jerusalem und stellt sich Leid und Tod. 

Der leidende Gottesknecht löscht den glimmenden Docht nicht aus. Langsam und zärtlich löst er den gordischen Knoten statt mit dem Schwert neue Wunden zu schlagen. 

Nach christlicher Überzeugung ist Jesus auferstanden. Doch der Weg zur neuen Existenz führt durch Leid und Tod. Es geht um den eigenen Körper, der hier eingesetzt wird. Diktatoren schicken andere in den Tod. Dieser Herrscher geht selbst in den Tod. 

Und die Welt, in der wir täglich erwachen, bleibt von Krankheiten und Kriegen geprägt. 

Was sich verändert ist nicht die äußere Situation, sondern die Deutung der Situation. Der eigentliche Kampf findet im Inneren statt. 

Die ersten Christen beeindruckten durch eine Hoffnung, die ihnen einen selbstbewussten Umgang mit der Realität ermöglichte. Sie waren in der Welt, aber nicht von der Welt. 

Der Mensch ist verwundbar. Jeder Mensch. Vielleicht können es viele Menschen lange Zeit verdrängen. Vielleicht haben viele Menschen vergessen, dass sie von Anfang an verwundete Wesen sind. Die Geburt ist ein Trauma. Die sichere Verbindung von Mutter und Kind endet in der Trennung der Nabelschnurr. Vielleicht verdrängen viele Menschen erfolgreich, dass Krankheit und Tod unwiderruflich Teil unserer Existenz sind. 

Dialysepatienten lernen, dass Verwundung nötige Voraussetzung für zumindest teilweise Heilung ist. Damit die Maschine das Blut reinigen kann, sind zwei Stiche nötig. Damit die Blutmenge ausreicht, müssen Arterie und Vene zu einem Shunt verbunden werden. 

Der Umgang mit Wunden ist eine existenzielle Erfahrung, die uns bewusst macht, dass wir zwar zeitweise Kontrolle über unsere Existenz haben, dass diese Kontrolle aber stets bedroht ist und eines Tages unweigerlich endet.

Macht ist eine Illusion auf diesem kleinen Planeten am Rande der Milchstraße. 

Auch der Mächtige braucht andere, die ihn ernähren, seine Wunden versorgen,sein Leben erhalten. Auch der Mächtige ist am Ende tot. Jede Nation wird vergehen. Auch dieser Planet versinkt am Ende in der Sonne. Für was lohnt es sich in dieser Perspektive zu leben?

Weihnachten stürzt die Mächtigen vom Thron und ändert unsere Perspektive. 

Das zentrale Ereignis findet nicht dort statt, wo die Mächtigen sind. Während die Geschichtsschreibung Kaiser und Diktatoren zählt, setzt ein scheinbar unbedeutender Wanderprediger seine Idee in die Welt. 

Gebt dem Kaiser, was der Kaiser für sich beansprucht. Geht zwei Meilen, wenn man das von Euch fordert. Liebt den Feind und stellt Euch auf die Seite des Schwachen. 

Die Reichen und Mächtigen werden zu Staub zerfallen. Die Botschaft des Kindes im Stall überdauert die Zeiten. 

Am Tag nach der Ohnmacht im Restaurant atme ich tief durch. Die Sonne scheint, der Himmel ist ungewöhnlich blau. Ich spüre einen leichten Schmerz im Shuntarm, doch das vorherrschende Gefühl ist Dankbarkeit für den neuen Tag. Im Herzen trage ich die Menschen, die meinen Weg in Liebe begleiten und ich denke an jene, die bereits ihren Weg auf diesem Planeten beendet haben. Ich hoffe, wir werden uns wiedersehen. Vielleicht in einem Restaurant. Vielleicht ist auch Jesus da. Er verwandelt Wasser in Wein und sein Blick lässt die Wunden heilen. Die Blindheit endet. Wir erkennen im anderen unsere Schwester und unseren Bruder. Die wesentlichen Momente in unserem Leben waren jene, wo wir liebend die Wunden erträglich machten, die jeder  in sich trägt. 

Gott in der Nacht der Leiden lieben?

Gott lieben in der Welt, die leidet?

Geburtswehen nennt es Paulus.

Das wäre unerträgliche Vereinfachung,

wenn nicht Paulus selbst gelitten hätte.

 

Die lange Nacht der Qualen

beginnt für manchen Menschen

mit der Geburt und endet mit dem Tod.

Mal ist es der eigene Körper, der quält,

mal sind es die Menschen, die quälen,

mal verursacht die unbelebte Welt Schmerzen.

 

Manche, die ein glückliches Leben führen,

preisen dafür Gott.

Ihr Glück ist ihnen Garant seiner Existenz.

Doch das Trugbild zerreißt.

Ohne Gegenüber bleibt ein Glaube,

der das Leid des Kindes ausklammert,

ein Kind ohne Verständnis eines philosophischen Sinnes,

den seine Qual haben soll.

 

Gesundheit ist uns ein teures Gut,

deshalb bauen wir große Kathedralen der Medizin,

in denen kleines und großes Leid behandelt wird.

Menschen mit langem Studium umsorgen Kranke,

Theologen und Psychologen hören und spiegeln Worte.

 

Man wendet Gesprächsführung und Empathie an

und dem Kranken scheint es kurz,

als werde er verstanden

und doch empfindet er die Distanz –

zum Gesunden, der ohne Erfahrung spricht.

 

Im Schmerz, in der Krankheit, in der Not,

hier begegnen wir Gott,

es sei denn wir begegnen nur dem

Selbstgespräch derer,

die den Dialog der Stille vermeiden,

wenn das Gespräch verstummt.

 

Den letzten Sinn des Leidens

Kann nur Gott uns geben,

von dem es heißt,

er sei die Liebe.

 

Er selbst wird uns die Antwort geben,

nicht seine Theologen und deren Bücher.

Bis der Schleier zerreißt,

kämpfen wir mit Gott gegen das Leid,

denn ER hat verheißen,

am Ende siegt das Leben!

 

E.-U.K.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0