· 

Wahrheit und Wirklichkeit

Begnüge Dich mit nichts, was weniger ist als Gott.


Maria Ward

Notizen zum Credo 15

Im Anfang... Propstei Leipzig
Im Anfang... Propstei Leipzig

Wir sehen das Sichtbare. Doch das Unsichtbare scheint entscheidend für unsere Existenz. Der Blick in die Erkenntnisse der Wissenschaft unterstreicht das.


Unser Körper tauscht ständig Atome. Unsere Identität hängt nicht an Materie, die aus Atomen besteht, sondern an Informationen über die Weise, wie die Atome angeordnet sind. 

Wollen wir etwas wissen über die grundlegende Natur des Seins stoßen wir an eine Grenze, die als Unschärferelation bekannt ist. [Heisenberg]

Unschärfe ist eine Aussage über die Natur der Dinge. Es ist nicht einfach nur eine Aussage darüber, was wir wissen können. Bei zwei Größen, über die ich nähere Informationen haben will, muss ich wählen, wenn die zwei Größen sich ergänzen. [Komplementarität]

Unschärfe ist eine universale Grenze, die uns unmöglich macht, alle in einem System enthaltenen Informationen zu messen. Wir können bei einem Elektron entweder den Ort oder den Impuls messen. Doch das Messen selbst verändert bereits das Elektron und das Ergebnis verrät nichts darüber, welche Eigenschaft das Teilchen vor der Beobachtung hatte. [Anton Zeilinger]

Ich glaube nicht, dass ich wirklich verstehe, was die Quantenphysik bis heute entdeckt hat. Aber die Lektüre führte mich zu einer anderen Beobachtung. 

Es gibt Menschen, die fest davon ausgehen, dass es ein absolutes Du gibt, das unser Sein trägt und über das Ende der Welt in seinem Herzen bewahrt.

Es gibt andere Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass es kein absolutes Du gibt. 

Offensichtlich gibt es selbst unter Naturwissenschaftlern beide Positionen. 

Der österreichische Quantenphysiker Anton Zeilinger erhielt 2022 den Nobelpreis für seine Experimente mit verschränkten Photonen. 

Zum Glauben an Gott sagte er:


An Gott zu glauben oder nicht ist für einen Naturwissenschafter genauso eine persönliche Frage wie für einen Laien. Gott kann nicht nachweisbar sein, aber er kann auch nicht nicht nachweisbar sein.


Vielleicht gibt es auch in der Frage nach dem absoluten Du eine unauflösbare Unschärfe?

Wirkliche Begegnung mit dem Du gelingt nur, wenn ich alle Bilder vom Du loslasse. Es gibt einen Teil in mir, der dem Du fremd bleibt. Einen Menschen entdecken, braucht Zeit.

Eltern glauben gerne, ihre Kinder zu kennen. Doch irgendwann müssen sie loslassen. Das Kind bleibt ein eigenes Wesen mit einem bleibenden Geheimnis. 

Auch das absolute Du bleibt fremd. Alle Bilder berühren nur den Rand eines Geheimnisses. 

Die Spuren des absoluten Du findet nur, wer alle Bilder und Erwartungen loslässt. 

Die Welt ist komplett ohne Gott, wenn ich die Augen dafür öffne. Ich kann die Natur ohne Gott erklären, wenn ich mich dafür entschieden habe, ihn nicht zu finden. 

Wir sind komplett von Gott umgeben, wenn ich mich dafür entscheide, hinter allen Bildern vom absoluten Du seine Spuren zu entdecken. 

Gott ist in der Welt ohnmächtig.

Das Ich ist im Körper ohnmächtig.

Viele Areale des Gehirns müssen zusammenwirken, um das Ich ins Bewusstsein zu rücken. 

Das Ich muss erst bewusst werden.

Natürlich weiß ich, dass die Naturwissenschaften es anders formulieren: das Ich entsteht aus den Signalen im Gehirn und aus dem Dialog mit der Welt.

Doch kann das tatsächlich so eindeutig formuliert werden? Tatsächlich bleibt unklar, wie das Bewusstsein entsteht. Erst recht bleibt unklar, wieso wir uns als Ich erleben. 

Die Rede über das absolute Du entsteht im Austausch von Informationen der vielen Suchenden. Bewusstsein begegnet Bewusstsein und erlebt die Präsenz eines absoluten Du, sofern beide das Geheimnis zulassen. 

Die Welt bietet Raum und Zeit, um dem Ich und dem Du zu begegnen. 

Das absolute Du schafft Raum und Zeit, um uns Begegnung mit dem Du zu ermöglichen und so zum Ich zu finden. 

Gott lässt die Welt ganz los. 

Der Mensch ist sein Ebenbild.

Gott ist Beziehungswesen. 

Der Mensch sucht nach dem Du. 

Menschen bereuen am Lebensende meist, dass sie nicht den Mut hatten, sich selbst treu zu bleiben. Das hat Bronnie Ware in ihrer Befragung von Menschen am Lebensende festgehalten. 


Leipzig im Spiegel
Leipzig im Spiegel

Der hebräische Begriff von Wahrheit tendiert nicht in Richtung einer objektiven Richtigkeit. Stattdessen wird betrachtet, ob ein Sachverhalt verlässlich und vertrauenswürdig ist.


Zugespitzt lässt sich sagen, dass im Hebräischen etwas dann wahr ist, wenn es sich bewährt bzw. bewährt hat. Das heißt, „Wahrheit“ beruht in den hebräischen Texten auf einer Glaubenserfahrung bzw. auf Vertrauen. 


Bevor wir etwas über die Natur und die Zusammenhänge in der Natur erfahren erleben wir uns als Menschen, die auf der Suche nach dem Du sind, das unsere Existenz trägt. Zuerst spielt die Mutter die zentrale Rolle. Dann erleben wir das Trauma der Trennung in der Geburt. 

Wir leben vom Urvertrauen. Dafür sind die ersten Jahre wichtig. Ohne das Urvertrauen scheint der weitere Weg schwer. Manche Verletzung ist so groß, dass es keine Liebe zu geben scheint, um die Verletzung zu heilen. Und doch ist Liebe das einzige, was hilft. 

Freunde können helfen, wenn sie geduldig den Weg mitgehen. 

Ein wahrer Freund ist ein Mensch, den ich als beständig und treu erlebt habe. 

Es gibt keinen Menschen, der immer beständig und treu ist. Wir alle tasten uns durch die Dunkelheit. Wir alle verletzen, auch wenn wir noch so sehr versuchen, das zu vermeiden. 

Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit ist nie die Wirklichkeit. Wir stossen nicht nur in der Quantenphysik auf eine Grenze, hinter der eine Aussage unscharf bleibt. 

Was wir beobachten, existiert gewiss. Bei dem, was wir nicht beobachten können, bleibt die Frage offen, welche Annahmen über Existenz oder Nicht-Existenz zutreffen. So beschreibt die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik das, was aus den bisherigen Versuchsergebnissen folgen könnte. 

Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit ist nie die Wirklichkeit.

Es fehlt sozusagen die Außenperspektive. Der Beobachter ist Teil des Systems. Ein letztes Urteil ist damit nicht möglich.


Der Gottsucher hält an dem Axiom fest, dass es ein absolutes Du gibt.


Beständig und treu ist vor allem das absolute Du. 

Wir selbst tasten uns blind durch die Welt. 

Manchmal bricht Licht durch die Wolken. 

Das mächtige Du ist nicht Teil des Systems.

Das ohnmächtige Du selbst ist Teil des Systems. 

Jesus Christus hatte ein Bewusstsein für den Weg zum Licht. Der Blick auf Jesus ist ein Blick auf das Licht selbst, von dem die Wirklichkeit getragen wird.

Die Wahrheit ist das Erkennen von Bruchstücken der Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit entzieht sich aber unserer Erkenntnis. Wir haben nur Perspektiven auf die Wirklichkeit. 

Das "letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz" [Nostra Aetate] wird in den Religionen in Bildern und Worten ertastet. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat vor allem die katholische Kirche anerkannt, dass sie selbst in der Dunkelheit nach den Spuren sucht. 

Die Kirche erzählt von Erfahrungen mit Jesus Christus. 

Die Kirche erkennt, dass für ihre Spurensuche wichtig ist, was andere Gottsucher in anderen Religionen entdeckt haben. 

Christliche Mystik nutzt die vertrauten Bilder der christlichen Tradition und findet die Spur des Du in dem, was Schrift und Tradition durch Raum und Zeit getragen haben. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0